„Das 3. Geschlecht“ ist ein theoretischer Begriff, welcher erstmals im 19. Jahrhundert verwendet wurde. Er thematisiert jene Menschen, die außerhalb unserer gesellschaftlich definierten Norm der physischen und psychischen Geschlechtszugehörigkeit stehen. Somit wird er gerne von Anhängern der „Queer Theory“ benutzt, kann aber auch im Zusammenhang mit Intersexualität stehen. Für werdende Eltern entwickelt sich aus diesem theoretischen Konstrukt, mit dem sich die wenigsten von ihnen vor der Geburt ihres Kindes befassen werden, manchmal urplötzlich ein wahrhaftiges Dilemma – nämlich dann, wenn die Frage nach dem Geschlecht des Kindes nicht eindeutig beantwortet werden kann.
Das 3. Geschlecht – wenn Eltern vor einem Rätsel stehen
„Junge oder Mädchen?“ – diese Frage beschäftigt werdende Eltern meist während der gesamten Schwangerschaft und wird im Kreissaal direkt nach der Geburt gestellt. Doch was passiert, wenn Arzt und Hebamme sich anschließend lange anschauen und keine eindeutige Antwort geben können? Dann beginnt für die frisch gebackenen Eltern eine verwirrende Zeit voller neuer Gedanken und aufkommender Fragen, welche sich auf das „Warum?“ und natürlich auf die Zukunft des Kindes beziehen.
Welche Erscheinungsformen des 3. Geschlechts gibt es?
Das 3. Geschlecht, Hermaphroditismus, Intersexualität – ebenso verschieden und vielfältig wie die Begriffe, welche das Phänomen zu beschreiben versuchen, sind auch seine Erscheinungsformen. Man kennt in der Medizin 3 Ebenen, in denen sich die Abweichungen von der festgelegten Norm manifestieren können:
- Die genetische Ebene
- Die anatomische Ebene
- Die hormonelle Ebene
Es ist also durchaus möglich, dass ein weibliches Baby zur Welt kommt, welches aufgrund einer Störung bestimmter Enzyme der Nebenniere jedoch mit einer großen Menge männlicher Geschlechtshormone versorgt wird. Das eigentlich weibliche Kind wirkt stark vermännlicht und verfügt beispielsweise über eine vergrößerte Klitoris, die vom Aussehen her eher an einen Penis erinnert (Adrenogenitales Syndrom, kurz AGS).
Besonders schwierig ist es für Betroffene, wenn der eigene Körper bis zur Pubertät hin scheinbar vollkommen eindeutig zuzuordnen ist, bestimmte (zu erwartende) geschlechtsspezifische Entwicklungen jedoch mit dem Übergang in diese Phase nicht eintreten. Als Beispiel hierfür kann das Androgenresistenz-Syndrom genannt werden, bei dem ein Baby mit männlichem Chromosomensatz geboren wird, sich aber nach außen hin weiblich entwickelt (Hoden verbleiben im Bauchraum, die Brust wirkt weiblich, etc.). Erst mit dem Eintritt in die Pubertät, sprich: dem Zeitraum, in dem eigentlich die Schambehaarung zu wachsen beginnen und die erste Menstruation einsetzen sollte, wird deutlich, dass im Körper dieses „Mädchens“ nicht alle Funktionen auf „weiblich“ eingestellt sind.
Häufig wird die Intersexualität eines Kindes also erst zum Zeitpunkt des Eintretens in die Pubertät überhaupt entdeckt, da sich die Abweichungen von der Norm auf rein hormoneller und/oder genetischer Ebene abspielen und vom bloßen Auge nicht bemerkt werden können. Um hier eine gesicherte Diagnose liefern zu können, müssen spezielle Testverfahren angewendet werden. Da diese nicht zu den Standarduntersuchungen nach einer Geburt zählen und bei einem gesunden Baby kein Anlass dazu besteht, derartige Analysen anzustreben, bleibt das 3. Geschlecht also bis zur Pubertät (und manchmal sogar darüber hinaus) im Verborgenen.
Insgesamt kennen Mediziner mittlerweile circa 20 Variationen von Intersexualität, denen unterschiedliche Ursachen zugrunde liegen und deren Erscheinungsformen von „deutlich sichtbar“ bis „mit dem bloßen Auge nicht festzustellen“ reichen.
Welche Ursachen liegen dem Phänomen zugrunde?
Die Ursachen für ein 3. Geschlecht sind beispielsweise in der Entwicklung eines Fötus zu finden, denn dieser ist in den ersten Schwangerschaftswochen sowohl männlich als auch weiblich. Erst später sorgen die vererbten Gene für eine spezifische Ausprägung des Geschlechts. Störungen dieses Vorgangs (durch nicht funktionierende oder doppelt vorhandene Chromosomen) sorgen dafür, dass die Entwicklung der geschlechtstypischen Merkmale nicht der Norm entsprechend verläuft. Häufig hört man in diesem Zusammenhang vom Ullrich-Turner-Syndrom (nur ein funktionsfähiges X-Chromosom) oder vom Klinefelter-Syndrom (ein zusätzliches X-Chromosom).
Doch das Spektrum der Ursachen reicht noch viel weiter: Fehlfunktionen von Enzymen und nicht (oder nur sehr gering vorhandene) Hormonmengen können ebenfalls dazu beitragen, Kinder mit nicht eindeutig zuzuordnendem Geschlecht entstehen zu lassen. Die Medizin benennt also mittlerweile eine große Palette verschiedener möglicher Ursachen, welche die Intersexualität eines Kindes herbeiführen können.
Müssen Eltern für ihre Kinder eine Entscheidung treffen?
Glücklicherweise öffnet sich die heutige Gesellschaft gegenüber Lebensweisen, die nicht den Traditionen und Normen entsprechen, immer mehr, so dass der Druck, welcher auf den Eltern eines intersexuellen Kindes lastet, nicht mehr ganz so hoch ist, wie noch vor einigen Jahrzehnten. Dennoch kann es sein, dass Eltern und Ärzte der Meinung sind, dem Kind das Leben in einer, hauptsächlich auf zwei Geschlechtern basierenden, Gesellschaft zu erleichtern, indem sie die Entscheidung über „Mädchen“ oder „Junge“ selber treffen.
In diesem Fall werden die betroffenen Kinder bereits in jungen Jahren schwerwiegenden operativen Eingriffen unterzogen, in denen entweder eine künstliche Vagina erschaffen, eine Verkleinerung der Klitoris angestrebt oder gar eine Kastration vorgenommen wird. Zusätzlich können Hormontherapien nötig werden, um die Resultate der Eingriffe zu unterstützen und zu festigen.
Natürlich dürfte jedem Menschen klar sein, dass sich Eltern von Kindern, welche man keinem der beiden Geschlechter eindeutig zuordnen kann, in einer psychischen Ausnahmesituation befinden. Dennoch ist diesen Vätern und Müttern ans Herz zu legen, einen derartig schweren Einschnitt in das Leben ihrer Kinder nicht voreilig vorzunehmen! Im ersten Moment scheint es vielleicht eine gute Idee zu sein, den Kindern die Anpassung an die (derzeitigen) gesellschaftlichen Normen zu erleichtern, doch langfristig können sich daraus schwerwiegende Folgen für die Sprösslinge entwickeln.
Nicht wenige Intersexuelle, denen die Entscheidung „Mann“ oder „Frau“ bereits kurz nach der Geburt abgenommen wurde, kämpfen später mit den folgenden Problemen:
- körperliche Schäden durch eine fehlerhafte Operation
- schmerzhafte Narbenbildung im sensiblen Genitalbereich
- quälende Langzeittherapien (wie die Bougierung der künstlichen Vagina)
- Störungen des Stoffwechsels durch Hormontherapien
- Unklarheit und nagende Zweifel bezüglich des eigenen Geschlechts
- Probleme beim Finden der eigenen Identität
- Von den Gefühlen her eben doch nicht männlich, sondern weiblich (oder umgekehrt)
Neben den drastischen körperlichen Konsequenzen der genitalangleichenden Operationen dürfen auch die psychischen Folgen für die Betroffenen nicht unterschätzt werden. Im schlimmsten Fall fühlen sich diese nämlich genau dem Geschlecht zugehörig, welches nicht für sie „ausgesucht“ wurde. Da die Operationen nicht reversibel sind, bleibt den Betroffenen jedoch kein Ausweg aus ihrer Situation – sie sind quasi im eigenen Körper in einem Geschlecht gefangen, dem sie sich vollkommen fremd fühlen.
Aus diesem Grund plädieren zahlreiche Aktivisten und Betroffene dafür, die Entscheidung über die Geschlechtszugehörigkeit den Kindern selber zu überlassen und diese erst zu fällen, sobald sie alt genug und sich ihrer eigenen Gefühle sicher sind.
Das 3. Geschlecht – was sagt das Gesetz?
Rein rechtlich gesehen müssen Eltern – zumindest in Deutschland – gar keine Entscheidung treffen, wenn das eigene Kind keinem der beiden Geschlechter zuzuordnen ist. Seit dem 01.11.2013 ist es erlaubt, bei der Registration der Geburt die Angabe über das Geschlecht wegzulassen, wenn eine eindeutige Zuordnung medizinisch nicht möglich ist. Diese neue Regelung ist zwar als Fortschritt zu betrachten, deckt aber dennoch nicht alle Eventualitäten ab. So bleibt die Frage offen, wie man das 3. Geschlecht denn nun benennen soll, denn die Betroffenen sind zwar nicht eindeutig zuzuordnen, aber alles andere als vollkommen geschlechtslos. Auch jene, bei denen erst in der Pubertät festgestellt wird, dass ihr Geschlecht doch nicht so eindeutig ist, wie sie bisher geglaubt haben, stehen weiterhin außerhalb dieser Ordnung.
Aller Kritik zum Trotze sollte diese Gesetzesänderung als Schritt in die richtige Richtung angesehen werden, denn er erlaubt es, die Selbstbestimmung intersexueller Kinder in den Vordergrund zu rücken und ihnen die Möglichkeit zu geben, frei von geschlechtsspezifischen Zwängen aufzuwachsen. Dem trägt auch eine Regelung aus dem Jahre 2008 Rechnung, welche es Eltern erlaubt, ihrem Kind einen geschlechtsneutralen Vornamen – wie beispielsweise Kim – zu geben, ohne diesen mit einem eindeutigen Zweitnamen versehen zu müssen.